Montag, 15. August 2011

Pferdemarkt in Kenmare - The Traveller´s Horse Fair

"Local people and tourist enjoy a fine day out and the 15th of August is certainly
a day to visit Kenmare and to see old and new in harmony."

aus: http://www.neidin.net/fairday/index.html


21.10 Uhr: und jetzt gibt´s doch noch ein wirkliches "15. August - Traveller-Kids-Erlebnis". Mit einem zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht mehr erwartetem Überraschungsangriff : Diebstahl-Versuch mit Power-Kids. Mit lautstarkem, aggressiven Körpereinsatz und erfolgreich verteidigter, wenn auch gerissener Halskette. Mit voll gespuckten Schaufensterscheiben und ...... Staunen! Mit  Fassungslosigkeit und Empörung. Und mit Phantasien über große, erwachsene Brüder, die ihre kleinen Schwestern rächen wollen. Mit Familienclans gar, die ...........!??


Was auch immer: schwer zu beschreiben dieses "Ein-,  Zwei-Minuten-Erlebnis". Für uns absolut einmalig bisher - glücklicherweise! Und wegen der Einmaligkeit sind wir auch recht sprachlos.


Der 15. August: seit Tagen, eigentlich schon seit Wochen und Monaten, eines der Gesprächsthemen hier in Kenmare. Der 15. August ist Markt-Tag. Pferdemarkt. Und die Hauptakteure sind die Traveller; ehedem: "Tinker".

Auf unseren früheren Irlandtouren haben wir sie selbstverständlich bereits gesehen. Aber wirklich begegnet sind wir Ihnen nicht. Fahrendes Volk in Campingwagen; in der Vergangenheit mit Pferd und Wagen unterwegs. Gypsies. Zigeuner ....... Keine Ahnung, welche Bezeichnung gerade "politisch (in)korrekt" ist.

Kinder ......
"Nehmt euch in Acht am Fünfzehnten; vor allem vor den Kleinen. Den Sechs-und Sieben- bis Zwölfjährigen. So schnell könnt ihr gar nicht gucken und reagieren, wie die euch beklauen. Kurzes, absolut professionelles Ablenkungsmanöver und schon sind sie verschwunden. Mit euren Waren!"

Egal, mit wem auch immer wir gesprochen haben; mit Alain und Christine vom Wein-Shop gegenüber, mit Margret vom Antik-Shop oder Manuela aus der Bäckerei: die Warnung war stets sehr eindringlich und deutlich: Seid auf der Hut. Die klauen, was das Zeug hält. Pay attention!
unter Generalverdacht?!
Alle hatten Einzelheiten zu erzählen. Auch Sarah aus dem "White Room" und John vom "Soundz of Music". Von Begebenheiten, die authentisch und nicht übertrieben wirkten. Durchaus realistisch!

Aber was sollte uns das sagen? Den Laden zulassen am 15. August? Obwohl der Pferdemarkt eine der touristischen Attraktionen überhaupt in Kenmare ist? Die Saison ist kurz. Einfach ein, zwei oder gar drei Tage schließen? (Der 15. fällt nämlich in diesem Jahr auf einen Montag. Also ist damit zu rechnen, dass "sie" in diesem Jahr auch schon am Samstag, den 13. August in Kenmare "einfallen".)

Indirekt brachte Eleonor uns auf eine Idee. Sie hätten "die Leute" früher erst gar nicht in ihren Laden gelassen. Gleich hinter der Eingangstür haben sie Tische aufgebaut und dann über diese Tische so gut wie möglich verkauft. Prima Idee. Einen Versuch wert. Besser - und vor allem kostengünstiger - als die Maßnahmen so manch anderer Shop-Betreiber., die sich eigens für den Pferdemarkt besondere Security-Leute anheuern. Wirklich! Oder den Laden einfach geschlossen halten.

O.K. - wir versuchen die "Tisch-Variante". Am Freitag machen wir Spätschicht bis 23.00 Uhr und der Laden wird umgebaut. Wir ziehen einen "Anti-Zigeuner-Schutzwall" gleich hinter der Eingangstür.Und öffnen am Samstag. Und bedienen. Und warten. Business as usual. Keine (klein-)kriminellen "Subjekte" unterwegs. Umsatz: Na ja ....! Könnte schlechter sein!

Am Sonntag: very slow (aber: Ruhe). Und dann: DER FÜNFZEHNTE .............. Wir phantasieren: Ich zieh mir eine schwarze Lederjacke an und positioniere mich mit möglichst grimmigem und abschreckendem Gesichtsausdruck in der Ladeneingangstüre. Keine Verdächtigen hereinlassend. Frances, unser "Landlord" empfiehlt mir noch einen abschreckendes Tattoo auf zumindest einem Oberarm ....... und ein Muskel-Shirt.

Aber auch am Fünfzehnten: Ruhe. Erfreulicherweise ist sogar wieder mehr zu tun, als am Sonntag. Trotz Ruhe. Ich tausche mich aus mit den anderen Ladenbesitzern. Ja wirklich. Es sei gar nicht zu vergleichen mit den Jahren zuvor. Gott-sei-Dank scheinen endlich die Maßnahmen zu wirken, für die sich die Shop-Betreiber schon seit einigen Jahren bei der Gemeindeverwaltung einsetzen. 




Abschleppwagen: "Parking Warning"
Endlich werden rigide Parkverbote ausgesprochen. Und jede Menge Gardas (Polizisten) zeigen Präsenz. Auch dürfen die Pferdemarkthändler nicht so, wie es wohl bislang üblich war, Verkaufsstände egal an welcher Stelle aufbauen. (und diese bereits Tage zuvor reservieren). Kurzum: der Tag verspricht normal zu verlaufen; u.a. deswegen, weil durch unliebsame Auflagen weniger "tolopen Volk" in den Ort kommt.

Der Stunden vergehen. Wir sind nicht unzufrieden. Der Umsatz stimmt. Und keine Spur von unliebsamen Begegnungen der klauenden Art. Warum nur haben wir uns den ganzen Stress mit dem Ladenumbau gemacht? Ob die Locals nicht vielleicht doch übertrieben haben? Kleinstädtisch - vorurteilsbehaftet gegenüber sozio-kulturellen Minderheiten. Konservativ-borniert, wie wir es ja auch von Zuhause aus kennen? Uns kommen Degenhardts "Schmuddelkinder" und Reinhard Meys "Musikanten sind in der Stadt" in den Sinn ...... Reingefallen?

Aber dann kommt Agatha, die nun wirklich nicht verdächtig ist, in irgendeiner Weise borniert oder gar xenophob zu sein, in unseren Laden. Unser Schutzwall und unsere Vorsichtsmaßnahmen sind auch ihrer Meinung nach durchaus berechtigt. Im letzten Jahr noch war es tatsächlich ziemlich übel mit den Übergriffen der Travellers. Nun gut: war unser Umbau also gerechtfertigt und wir sind nicht den Vorurteilen und Vorverurteilungen der Einheimischen aufgesessen. Ist ja prima, wenn sich alles zum Besseren hin entwickelt. Unser Ladenumbau war also gerechtfertigt: wir haben unsere Erfahrungen gemacht, bauen alles wieder ab und im nächsten Jahr können wir´s dann ohne "Schutzwall" probieren. 

Gegen 18.00 Uhr war Agatha in unserem Shop, um 18.30 Uhr haben wir den Laden geschlossen, um alles wieder "normal" zu gestalten. Um 21.00 Uhr, immer noch mit dem Umbau beschäftigt, haben wir die Eingangstür kurz geöffnet - wegen Frischluftzufuhr. Und um 21.10 Uhr, den Eingang nur ganz kurz nicht im Blick, standen sie mitten in unserem Geschäft: ein 8 - bis 10 - jähriges Mädchen mit ihrer vielleicht 4 bis fünf Jahre älteren Schwester (oder Freundin?): offensichtlich darauf aus, uns zu beklauen.

Weder durch freundlich bestimmte Worte noch durch energische, nachdrückliche Ansprache dazu zu bewegen, den Laden zu verlassen. Selbst verstärkte körpersprachliche Zeichen bleiben ohne Erfolg. Im Gegenteil: Fuck off und ein blitzschneller Griff nach zumindest zehn Halsketten, die ich in meiner Hand halte. Unglaublich! Aber auch erfolglos!

Handgreiflich dann mein Einsatz, um sie aus dem Laden zu vertreiben. Und voraussehbar die Reaktionen vor nunmehr blitzschnell wieder verschlossenem Laden: Gezeter, Drohungen und Rotz. Aktiv: vor allem die Lütte! Die Ältere dagegen eher "im Windschatten" ................

Unser Herz pocht. Ein wenig. Und etwas mehr. Ungewissheit über das, was noch folgen könnte: Die großen Brüder? Die Familie? Gar ein ganzer Clan ..?

Nach einem Absacker-Smithwick´s im "Wander Inn" überzeugen wir uns später davon, dass die Schaufensterscheiben von unserem Laden noch heile sind ..............



Wikipedia:

"Pavee, auch irische Traveller (irisch: Lucht siúil) oder Itinerants genannt, sind eine als fahrend beschriebene soziokulturelle Gruppe irischen Ursprungs, die vor allem in Irland, Großbritannien und den USA lebt. Mit Reisen bzw. Fahren ist eine historisch durch ökonomischen, rechtlichen und sozialen Ausschluss bedingte und kulturell verfestigte Form dauerhafter Binnenmigration gemeint, die familienweise ausgeübt wurde und z. T. noch wird.

Die weit verbreitete Fremdbezeichnung Tinker entstand aus dem englischen Ausdrucks tin für Zinn. Sie bezieht sich ähnlich dem deutschen Kesselflicker auf ein in dieser Gruppe historisch besonders verbreitetes Gewerbe ....

Die Pavee leben mit abweichender Sprache, Kultur und Wertesystem innerhalb einer traditionell sesshaften Gesellschaft und Kultur. Innerhalb der Gruppen zu heiraten, auch aus wirtschaftlichen Gründen (Mitgift etc.), spielt eine wichtige Rolle und untersteht internen Regeln. Ehen werden früh arrangiert und jung geschlossen. Eine verordnete, formale und staatliche Bildung lehnen sie meist ab und tradieren Wissen und Werte in vormoderner Weise auf dem Weg der familiären und Gruppensozialisation. Auch deshalb sind sie oftmals einer Kulturüberheblichkeit, Diffamierungen und Diskriminierungen ausgesetzt. Als Menschen ohne festen Wohnsitz und mit von außen wenig durchsichtigen Erwerbsweisen und kulturellen Besonderheiten sind sie seit langem mehrheitsgesellschaftlich stigmatisiert und dem Verdacht der staatlichen Institutionen ausgesetzt.
Zur historischen Herkunft der Pavee gibt es unterschiedliche Vorstellungen. Dass die Namen der Paveefamilien sich vom irischen Namensbestand nicht unterscheiden, spricht dafür, dass sie eine Teilgruppe der irischen Bevölkerung darstellen. Dies entspricht auch der Eigensicht der Pavee wie von jüngeren Untersuchungen bestätigt wird.[2] Demnach wäre davon auszugehen, dass die Angehörigen der Gruppe wie vergleichbare Gruppen in anderen Ländern (siehe oben) durch sozioökonomische Prozesse aus der Mehrheitsbevölkerung herausgefallen sind oder an ihren Rand geraten sind, nicht aber auf eine historische Gruppe anderer Ethnizität zurückgehen wie gelegentlich behauptet.

Zwei auf isolierte historische Einzelereignisse reduzierende und daher kaum plausible Herkunftsbestimmungen nennen den Feldzug Oliver Cromwells in Irland (1649-1653) bzw. die Große Hungersnot in Irland von 1845-1852 (The Great Famine, irisch: An Gorta Mór) als Entstehungsgrund der Pavee.

Wie regelmäßig bei soziokulturellen und ethnisch-kulturellen Gruppen, die von mehrheitsgesellschaftlichen Betrachtern als auf eine faszinierende Weise abweichend und „exotisch“ wahrgenommen werden, bieten auch in diesem Fall Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts mythische Herkunftserklärungen an ...

Traditionell waren sie Hausierer, Wanderhandwerker (Blechschmiede, Kupferschmiede, Hausierer, Kesselflicker usw.) und passionierte Pferdehändler. Historisch spielte die Migration der Tinker eine wichtige Rolle bei der Verbreitung von Musik, Geschichten und Neuigkeiten. In Zeiten ohne moderne Medien und mit eingeschränkter Mobilität waren Traveller in entlegenen Gegenden wesentliche Übermittler von Kultur und Information. So beeinflussten sie stilistisch auch sesshafte Musiker und trugen auf diese Weise maßgeblich zur Entwicklung des Irish Folk bei.
Der abweichende Lebensstil - das Zusammenleben im großen Familienverband und eine als "nomadisch" empfundene Lebensweise - sowie die Vorstellung einer mit dem Auftreten der Minderheit einhergehenden erhöhten Delinquenz erzeugen Konflikte zwischen den Pavee und der Mehrheitsbevölkerung, besonders in urbanen Zonen und aus raumplanerischen Gründen. Bewilligungen zum Erstellen von Wohnbaracken und Aufstellen von Wohnwagen werden oftmals nicht eingeholt, da Travellers schon im Vorfeld davon ausgehen, dass diese nicht erteilt werden. Die Pavee berufen sich dann, für die Legitimität ihrer Lager und Siedlungen, auf Menschen-, Minderheiten-, Gewohnheits- und Grundrechte.

Obwohl Traveller auch ein Synonym für Gauner ist, haben die Pavee keine signifikant höhere Kriminalitätsrate. Anders sieht es dagegen bei Übertretungen und Vergehen gegenüber Behörden und landschaftlichen Hoheitsrechten aus." (Wikipedia)


Bei Ralf Sotscheck (Gebrauchsanweisung für Irland) ist zu lesen, dass die "18 000 Fahrenden in Irland ständig von Vertreibung bedroht sind. "Die Lebensbedingungen der T. sind schlechter als die der ärmsten Schichten der sesshaften Bevölkerung. Ihre Lebenserwartung liegt bei fünfzig Jahren, die Familien sind doppelt so groß, und die Kindersterblichkeit ist dreimal so hoch wie im Landesdurchschnitt. Und die Diskriminierung verschärft sich."

Ralf Giordano (Mein irisches Tagebuch): "Die Reisenden sind Irlands große Sozialwunde geblieben ..... Hier, wo sich Einheimische und travellers von der Hautfarbe nicht unterscheiden, arbeit so etwas wie ein Kasteninstinkt mit der seherischen Gabe, die underdogs untrüglich an Merkmalen zu erkennen, die unsereinem verschlossen bleiben. Auch dann, wenn travellers einzeln auftreten, werden sie von Einheimischen sofort erkannt, in Pubs gewöhnlich mit der Konsequenz, dass ihnen jeglicher Drink verweigert wird."

makaber: Waage
gefunden: heute, auf dem Markt
Im Gegensatz zum Wikepedia-Artikel schreibt Giordano hinsichtlich der Kriminalitätsrate: "Die Polizeistatistiken ergeben unmissverständlich, dass die Irish traveller´s community" überdurchschnittlich beteiligt ist an Rowdytum, gewalttätigen Auseinandersetzungen ... und Eigentumsbeschädigung ..." Und er schreibt von "Verinnerlichung des Geächtetenstatus in der traveller-Gemeinde selbst". Aber auch von einer neuen Generation, "die selbstbewusst auftritt, sich schulisch oder autodidaktisch gebildet hat und den Ist-Zustand nicht einfach hinnehmen will. Sie steht auf und rebelliert, will nicht länger Irlands `Neger` sein, verlangt überall gleiche Behandlung, in Bars, Theatern, Hotels und Kinos."


Doch die Perspektive scheint eher düster: "Die Hoffnung, dass das traveller-Problem in einer geduldigen und sorgsamen Weise gelöst werden wird, ist eher gedämpft". Zu groß die gegenseitigen Vorurteile. Über viele, viele Jahrzehnte hin verfestigt. Völlig verfahren .....

Ein kleiner Hoffnungsschimmer - vielleicht: Als die Kenmarer uns vor Diebstählen gewarnt haben, haben sie das immer mit sehr vorsichtiger Wortwahl gemacht. Im Vordergrund stand eindeutig die Warnung, nicht die Diffamierung. Von nicht verhülltem Rassismus, wie ihn Giordano ebenso eindrücklich wie erschreckend  beschreibt, wirklich keine Spur .......

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